TUHH Spektrum Oktober 2016 | Page 41

Die Ersten ihrer Art

Große Unsicherheit und niemand , den man um Rat fragen könnte . Wer es als erster aus der Familie an die Uni schafft , fühlt sich oft allein gelassen . „ Arbeiterkind . de “ – eine von mehr als 30 studentischen Arbeitsgemeinschaften der TU Hamburg – will das ändern , beginnend auch schon an Schulen . Ein Bericht von Claus Hornung .
Foto : Johannes Arlt

Es war eine Dokumentation im Fernsehen , die Thilo Sander plötzlich etwas klar gemacht hat . Im Film wird eine Jurastudentin porträtiert , im Bestreben , ihr Studium zu meistern . Und das unter schlechten Voraussetzungen : Niemand aus ihrem Elternhaus hatte studiert . Niemand konnte sie mit Erfahrungen aus der eigenen Universitätszeit unterstützen . Auch nicht mit Geld oder mit Selbstbewusstsein , um sagen zu können : „ Ich gehöre hierhin .“

Der Film zeigte : Studierende wie sie stehen nicht nur besonderen Herausforderungen gegenüber , sondern sind nach wie vor eine Minderheit an deutschen Universitäten . Laut einer Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes ( DSW ) von 2013 besuchten 77 Prozent der Kinder von Akademikern eine Universität oder Fachhochschule , bei Nicht-Akademikern waren es gerade einmal 23 Prozent – obwohl diese 80 Prozent der deutschen Bevölkerung stellen . „ Plötzlich wurde mir klar , dass ich zu einer Minderheit gehöre “, sagt Sander , Drittsemester im Masterstudiengang Internationales Wirtschaftsingenieurwesen und Sohn einer Kindergärtnerin und eines Technikers . Sander gehört zu den 39 Prozent Studierenden der Ingenieurwissenschaften aus Arbeiterfamilien . 42 Prozent sind es in allen universitären Fächer inklusive der Ingenieurwissenschaften , so eine Studie der Stiftung Mer - cator .
Sander will mit dazu beitragen , dass mehr Studierende der ersten Generation den Weg an Universitäten schaffen und hat sich gemeinsam mit 15 Kommilitonen dem bundesweiten Netzwerk „ Arbeiterkind . de “ angeschlossen und auf dem Campus die studentische Arbeitsgemeinschaft gleichen Namens gegründet . Die Bezeichnung sei nicht optimal , weil der Begriff „ Arbeiter “ mehrdeutig ist , darin sind sich alle einig . Es geht um „ Studierende in der ersten Generation “. Keiner in der Runde spricht von „ Diskriminierung “, dafür fällt immer wieder das Wort : Unsicherheit . „ Der Anfang ist für alle schwer “, sagt Sven Baetge . Aber wenn in einer Familie jemand einem schon mal erzählen kann , wie es an einer Uni läuft und man nicht bei null anfängt , sei dies hilfreich .“ Dies gelte auch für die Vermittlung von Praktika , die in akademisch geprägten Familien selbstverständlich sei . Für alle , die nicht auf solche Kontakte zurückgreifen können , will Arbeiterkind . de auf dem Campus ein Netzwerk aufbauen .
Die Unsicherheit werde oft durch die finanzielle Situation verstärkt . Während in der DWS-Studie Dreiviertel der Studierenden aus höheren sozialen Schichten angaben , ihr Studium sei finanziell abgesichert , lag die Quote bei weniger als der Hälfte der Studierenden aus unteren sozialen Schichten . Deshalb wird oft auf ein Auslandsemester verzichtet , auch weil Informationen über BAföG , Stipendien und andere Fördermaßnahmen oft fehlten . „ Viele denken , dass Stipendien nur etwas für Einser-Abiturienten wären , dabei kommt es meist mehr auf die Persönlichkeit an “, sagt Baetge , der selbst Stipendiat einer Stiftung war und heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Umwelttechnik und Energiewirtschaft ist . Auch hier will Arbeiterkind . de beraten und sogar in Schulen gehen .
„ Oft führt diese Unsicherheit dazu , erst gar nicht zu studieren “, sagt die Studentin Labiba Ahmed . So hätten sich viele aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis für eine Ausbildung entschieden , obwohl sie von ihren Noten her durchaus auch hätten studieren können . Die Studierenden von Arbeiterkind . de werden deshalb bereits Schüler beraten und diesen Mut zu einem Studium machen . „ In unserem Schulsystem hängt zu vieles von den Lehrern ab “, sagt Baetge . Ihn selbst hatten seine Eltern einst gegen die Empfehlung der Lehrer statt auf die Hauptschule auf die Realschule geschickt , von wo aus er später aufs Gymnasium wechselte . Er erinnert sich noch „ an einen Lehrer , der mich dort stets spüren ließ , dass ich keine gleichwertige Bildung erfahren hätte und deshalb nie so gut bewertet werden könne wie Schüler mit einem akademischen Umfeld .“ Darum sei es wichtig , dass es jemanden gibt , der einem sagt : „ Du kannst das .“ Auch Sander sagt : „ Wer Unterstützung erhält , kann viel besser seinen Weg gehen .“ Er sieht aber auch einen Vorteil bei Studierenden der ersten Generation : „ Sie sind zielstrebiger .“
Die AG hat jeden zweiten Montag im Monat Sprechzeit in Raum E0.069 von 17 bis 18.30 Uhr . arbeiterkind @ tuhh . de .