Neue Debatte - Beiheft #010 - 04/2017 Der Durst der Namenlosen und Bertolt Brecht

NEUE DEBATTE THE MAGAZINE BY THE PEOPLE FOR THE PEOPLE B E I H E F T Nr. 10 08.03.2017 Gunther Sosna / Reinhard Paulsen Ü BER DEN D ÜRST DER N AMENLOSEN ÜND DIE T A NZE DER R EGENMACHER „Selbst in dem sagenhaften Atlantis brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, die Ersaufenden nach ihren Sklaven“, schrieb Bertolt Brecht 1935. Heute brüllen die Regenmacher. Ein Essay über das Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters und über die brennende Sonne der sozialen Ungleichheit. In jedem Winkel der politischen Gesell- schaft lauern selbst ernannte Gurus, Al- leskönner und Großsprecher, manche mit Parteibuch unter dem Arm, andere mit Glaubensformeln auf den Lippen oder mit gefakten Wahrheiten bewaffnet, die für sich in Anspruch nehmen, in der komple- xesten Epoche der Menschheitsgeschich- te, zu wissen, wo es lang geht: Regenma- cher! Erbsen im Pichelsteiner Eintopf – jederzeit austauschbar oder verzichtbar -, sie wis- sen angeblich, wie die Arbeitslosigkeit be- seitigt wird, wie die ökologische Zerstö- rung aufgehalten werden kann, wie die Armut verschwindet, die Bildung erblüht und überhaupt wissen sie, wie du, ich und wir morgen leben wollen – in der komple- xesten Epoche der Menschheitsgeschichte. Zugegeben, nicht jeder, der den Regen für alle will, ist ein Scharlatan. Die meisten sind es doch – die Sache ist heilig, das Ka- pital ist noch heiliger. Die Regenmacher kennen keine trockene Kehle. Der Kompromiss ist ihre stärkste Panzerung, verhindert dieser doch jede Verbindlichkeit: da ist nichts, was nicht verhandelbar wäre. Ihnen gegenüber steht die wachsende Schar derer, die den Regen herbeisehnen, obgleich sie ahnen oder schon wissen, dass es doch schon lange regnet, und die dabei verstehen, dass jeder Tropfen wert- voll ist – für dich, für mich, für uns alle. Krieg oder Frieden, Menschrechte oder Folterkeller, Völlerei oder Hungersnot – alles wird zur Ware. Der Konjunktiv ver- meidet die Forderung: Jede Hintertür, Scheunentore der Beliebigkeitskathedrale, bleibt geöffnet – sperrangelweit. Tropfen um Tropfen – mit der Ausnahme von der Regel füllen sich keine Fässer, keine Flüsse und keine Ozeane: die Re- genmacher tanzen weiter. Machen wir es kurz: Diese Gurus, Alles- könner und Großsprecher verkaufen noch nicht einmal Träume. Sie halten nichts in den Händen, was es zu greifen lohnt. Diese Supermänner und Superfrauen, im gesellschaftlichen System bedeutsam wie Ihre Worte sind vergiftete Feigen, die jede gewichtige Frage zu den Ungerechtigkei-